Hintergrundbild

Walter Zschokke

Einige Gedanken zu den Arbeiten von Silvia Grossmann

Eine Annäherung an die Gebilde aus Schweißdraht, Papier und Fotokopien von Silvia Grossmann erfordern Behutsamkeit. Sie sind blass zart, teils matt durchschimmernd, teils versehen mit restflächig offenen Durchblicken. Ihre Fragilität signalisiert uns jenes „nur mit den Augen schauen“, worauf die Eltern uns Kinder angesichts von Kunstwerken oft hinweisen. Ein Innehalten, zu schauen und die Wahrnehmung feiner zu stellen, verlangen sie uns beim ersten Hinsehen ab.

Das generierende Verfahren – wenn wir es so nennen dürfen, denn es wird nicht streng gehandhabt – beginnt mit der Fülle von Bildern, welche die Großstadt anbietet, woraus eine Auswahl durch die Künstlerin fotografisch festgehalten wurde. Hernach folgt ein Sortieren, Zerlegen und neu Zusammenfügen als Reihungen und Wiederholungen einzelner Elemente. Oft irritieren Drehungen der Fassadenausschnitte um 90 oder 180 Winkelgrade unsere Sehgewohnheiten. Oben wird mit unten vertauscht oder die Basis mit einer Seite, sodass ein zweites oder gar drittes Hinschauen zu sachlicher Klarheit führt

Diese Monatageweise sichert einen fremden Blick auf scheinbar Bekanntes. Die Bilder von Wiener Gründerzeitfassaden, deren Straßen- und Hofseiten signifikant verschieden sind, geraten in Bewegung, fächern und verdoppeln sich, oder zerfallen in einzelne Elemente, die, anders geordnet, zu einer neuen Gesamtform finden.

Die gewählte Reproduktionsweise der vergrößerten Fotografien: die Fotokopie ist alltäglich, kostengünstig, ja geradezu billig. Doch sie ist körniger und kontrastreicher als die handwerklich korrekte Fotografie und daher in der Aussage schärfer. Zugleich ist sie wieder rußig, fast schmutzig zu nennen, und sie lässt manches Detail im Dunkeln. Das profane Wiedergabeverfahren vermeidet überflüssige Auratisierung, erinnert mehr an Hofseiten und an Häuser, die schon länger keine bauhandwerkliche Erneuerung erfahren haben. Sie zeigen alltäglichen Gebrauch und profane Geschichte nicht in melancholischer Verklärung, sondern sie dienen als nüchternes Material, als Ausgangsmaterial für neue, selbständig Gebilde. Diese erscheinen in ihrem Gesamtcharakter teils als freie Assoziationen: „Flügel“, „Schiff“, „Tänzer“; oder sie werden ihrerseits wieder zu vermeintlichen Gebäuden (Phönixhof I und II, die aus Superpositionen eines Gebäudeabschnitts entstehen. In ihrer Wiederholung türmen sie sich ganz unwienerisch in die Höhe. Von der Fläche schlagen die Bilder um in Raum, sei es wegen der Perspektivwirkung des stützenden Drahtgerüsts, wegen des Herausschneidens von Zwischenflächen oder wegen der Anordnung mit Mittelteil und Flügeln, wodurch die Enge eines Lichthofs oder die Gravitation eines offenen Treppenauges zum Ausdruck kommen. Ausgehend von der Realität springt der Inhalt hinüber ins Irreale. Das Isolieren einer Treppenspirale in ein zerbrechlich zittriges Gebilde erinnert an jene Bedrohlichkeit von Treppen, die Barbara Neuwirth in ihrer Erzählung „Columbine“ anspricht. Offen gelassene Negativformen erhalten ein eigenes formales Gewicht, verdichten sich zu Himmelsausschnitten zwischen zusammengerückten Hinterhoftrakten. Es entstehen Kippfiguren, die sich von Bildinhalten, Formen und Sekundärsymmetrien her bestimmen lassen und ihren Ausdruck immer dann wechseln, wenn man glaubt, ihn festgehalten zu haben. Nicht nur ihrer zerbrechlichen Anmutung, sondern auch ihrer changierenden Inhalte wegen, wirken die Objekte kaum fassbar, scheinen vergänglich und bedroht, ähnlich Herbstzeitlosen angesichts des Winters. Doch ist das Fragile eher als Strategie zu sehen, den Betrachter zu Sorgsamkeit anzuhalten und dem Objekt auf diese Weise als Artefakt und in der Erinnerung Dauer zu sichern.

 

Wien, im August 1999

 

Walter Zschokke

 

 

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