Christoph Braendle
Ich lebe am Rande
Ich lebe am Rande des Wahnsinns, sagte der Mann, ich halte es keinen Tag länger aus, keinen Tag mehr in diesem Haus, ich werde verrückt, sag' ich Ihnen, ich werde verrückt, wahrscheinlich bin ich es schon. Ich habe, ich bin, ich muss ... Nein, ich kann nicht ausziehen, unmöglich, das Haus ist zu schön, ich habe jahrelang gewartet, bis ich hier endlich diese Wohnung erhielt, das Haus, der Innenhof, ich kann nicht wegziehen, ich bitte Sie!!!
Natürlich habe ich mich beschwert, oft und oft habe ich mich beschwert, aber es ist sinnlos solange ich keine Zeuge haben, solange es keine Beweise gibt, solange nur mein Wort ... Hören Sie? Nein? Nein, ich höre auch nichts. Jetzt nicht, es herrscht Ruhe im Haus. Das, sag' ich Ihnen, ist die Verschwörung, das ist die Gemeinheit, weil es immer ruhig ist, wenn ich die Untragbarkeit der Zustände beweisen will. fünfmal war die Polizei hier, fünfmal war es totenstill, für die bin ich ein Querulant, paranoid, eine Schießbudenfigur ...
Da! Haben Sie es gehört? Haben Sie es gehört? Nein? Nein, wahrscheinlich war wirklich nichts. Wenn das nämlich anfängt, dann hört es so schnell nicht mehr auf Dann geht das weiter. Stundenlang geht es weiter, das dringt ins Gehör, das hämmert im Hirn, das quält und foltert, bis man verrückt werden will. Aber im Moment, da man glaubt, sich an den Irrsinn gewöhnt zu haben, bricht es plötzlich ab. Dann ist es still, mucksmäuschenstill, dass einem die Trommelfelle aus den Ohren quellen. Man hält die Stille nicht aus. Man wünscht sich irgend etwas, einen Schrei,' ein Weinen, eine Entsetzlichkeit, um die verdammte Stille zu durchbrechen. Irgend einen lauten, lauten Klang. Aber es bleibt still. Die normalen Geräusche eines Biedermeierhauses. Schlagen von Türen. Klappern von Töpfen. Gurgeln in den Abwasserrohren. Wind im Hof
Nein, bleiben Sie! Gehen Sie nicht, noch nicht, vielleicht haben wir Glück, vielleicht hören wir's noch. Möchten Sie etwas essen? Möchten Sie Kaffee? Ich weiß, was Sie denken. Mit meinen angegriffenen Nerven sollte ich keinen Kaffee trinken. Ich brauche Kaffee, er hält mich wach, und ich muss wach bleiben, weil es sonst nur schlimmer ist. Wenn man nämlich einschläft, und dann plötzlich diese... Schreie in die Träume dringen, dieser furchtbare Lärm, um in die Träume Verheerungen zu bringen, diese Bildern, die mich , aufschrecken lassen" weil es weiter, immer weiter schreit.
Ja, es ist still, und ich weiß, dass es still bleiben wird, solange Sie in meiner Wohnung sitzen. Sie werden weggehen und denken, der ist verrückt, der lügt... Ich lüge nicht. Ich bin nicht verrückt. Ich werde bloss wahnsinnig werden.
Wann es begann?
Vor genau drei Jahren. Ich zog vor fünf Jahren hier ein. Im September. Ich war glücklich. Eine Wohnung in diesem wunderschönen Haus. Echtes Biedermeier, wie gesagt, mit echtem Wiener Innenhof, und wer hätte nicht Lust auf einen Stadtgarten vor dem eigenen Fenster. Die Nachbarn waren nett. Man sieht sich, wenn auch oft nur flüchtig, auf den Pawlatschen. Die Bergers waren besonders freundlich. Sie begrüssten mich, als ich einzog. Sie sagten, wenn ich einmal etwas brauche, Milch oder Mehl, ich solle nur fragen, man halte zusammen in diesem Haus, das gehöre zur Hofkultur.
Vor drei Jahren verlor er seine Stelle. Er wurde arbeitslos, er begann zu trinken, Sie wissen vielleicht, wie es ist, wenn man sich auf etwas verlässt, das nicht hält. Schon fing es an. Gebrüll und Flüche. Schläge. Das Schreien, das Weinen und Jammern. Vor allem die Schläge, Haut auf Haut, Leder auf Haut, das dringt durch die Fenster in den Hof, wo es sich verstärkt, dass mansogar das Pfeifen des Gürtels hört. Ich wusste am Anfang nicht, was da vor sich geht. Ich glaubte, die haben Video. Sie können mir glauben, ich dachte wirklich, das ist-harmlos, man sieht ja nichts, man sieht nicht durch die Wände, man hört nur, wie es klatscht man hört Schreie, man hört Weinen. Man weiß nicht, ob die Bilder, die im Kopf entstehen, der Wirklichkeit entstammen, man schimpft mit seiner Fantasie, weil man glaubt, sie ist überdreht.
Ich fing an, die Frau Berger zu beobachten. Ich hielt Ausschau nach blauen Flecken, nach blutunterlaufener Haut nach Abschürfungen, Striemen, nach Wunden aller Art. Manchmal sah ich etwas. Nicht sehr oft allerdings, manchmal trug sie grosse Sonnenbrillen, manchmal rannte sie davon, wenn sie mich sah. Einmal versuchte ich, mit ihm von Mann zu Mann zu reden, aber er wurde wütend und ging mit der Bierflasche auf mich los. Nach einer besonders schlimmen Prügelei alarmierte ich zum ersten Mal die Polizei. Die kam und zog wieder ab. Kein Vorfall. Keine Anzeige. Nichts. Nur der Herr Berger giftet mich seither jedesmal an, wenn er mich sieht. Ich gewöhnte mir an, nach der Arbeit spät nach Hause zu kommen, nach elf erst, ab elf war Ruhe, da hat er sich wohl erschöpft in seinem Zorn. Mein Chef war zufrieden, weil ich doppelt so viel Zeit im Büro verbrachte, haben Sie jetzt endlich einen Ehrgeiz entwickelt, sagte er, ich sagte lieber nichts. Eine Weile lang ging das gut. Dann starb die alte Frau Fromaschitz. Ihre Wohnung stand einige Wochen lang leer. Dann zog der Dr. Worab ein.
Ein netter junger Mann, sehr, sehr höflich, ein Gentleman. Er erzählte, dass er Jurist sei, alleinstehend, ich unterhielt mich gerne mit ihm, er ist Anwalt in einer grossen Kanzlei. Wir redeten oft über das Haus und den Innenhof, wir waren uns einig in der Bewertung, dass das Ensemble einen ungeheuren Charme besitze. Er sagte, ihm gefalle die Intimität, es gebe ihm ein Gefühl der Verbundenheit. Ich erzählte von den Bergers, ich fragte wohl um Rat. Juristisch, sagte er, könne man wenig machen, solange es keine Beweise gebe, menschlich finde er es absolut tragisch, er werde nie verstehen, wie ein Mann eine Frau gegen ihren Willen schlagen könne, einsperren sei das Mindeste. Ich pflichtete ihm von Herzen bei und hoffte, endlich einen Vertrauten gefunden zu haben. Bis es nach ein paar Wochen bei ihm losging. Allerdings nur in der Nacht. Aber sonst: die gleichen Schläge, die Schreie, das Weinen, Jammern und Klagen. Vor allem die Schläge, Haut auf Haut Leder auf Haut ich hatte die längste Zeit keine Ahnung, was geschieht, er war ja nicht verheiratet, er lebte allein. Als ich ihn fragte, lachte er. Er zeigte mir stolz seine Sammlung. Peitschen und Gerten. Ruten', Rohrstöcke und Pracker. Er züchtige, sagte er, damit seine diversen Freundinnen. Er fragte sogar - können Sie sich das vorstellen? -, ob ich zuschauen möchte. Ich war schockiert. Er lachte nur umso mehr. Sie rennen mir die Tür ein, sagte er, weil ich ihnen gebe, wonach es sie verlangt. Ich habe mich auf die Lauer gelegt und sie beobachtet. Ich habe sie gesehen, wie sie zu ihm gingen, und ich habe sie gesehen, wie sie die Wohnung wieder verliessen. Sie waren glücklich. Sie haben gelächelt, wenn sie den Hof durchquerten, sie haben in den Himmel geschaut und gestrahlt.
Das Schlimme ist, dass sich alles zu vermischen beginnt. Die Schreie der Lust und die Schreie des Schmerzens klingen offenbar gleich, ich kann sie nicht unterscheiden. Schreit jetzt, eine beim Dr. Worab, weil sie geil ist? Schreit die Frau Berger, weil sie leidet? Mein Kopf verwirrt sich, und ich muss befürchten, dass ich Lustbilder sehe, wenn gelitten wird, und Schreckensbilder, wenn Frau sich freut.
Hören Sie jetzt? Jetzt? Nein, das war es noch nicht. Wenn Sie eine Weile hier bleiben möchten. Es ist ein herrlicher Frühlingsabend. Wir könnten uns vielleicht vor's Fenster setzen. Dem Wind zuhören, wie er durch die Bäume rauscht.
Wien, im Mai 2001
Christoph Braendle