Zsuzsanna Gahse
Gute Verwechslungen nicht ausgeschlossen
Zu den Arbeiten von Silvia Maria Grossmann
Oft schaue ich mit neidischen (sehnsüchtigen, süchtigen) Blicken zur Bildenden Kunst hinüber. Was sie alles tun darf, was sie alles schon verstanden hat! Wie sehr sie in unsere Zeit gehört! Sie ist in mancher Hinsicht besser als die Literatur.
Für die Bildende Kunst ist es seit Jahrzehnten selbstverständlich, von der Wand herabzusteigen, und wenn sie nicht mehr als Bild an der Wand hängt, weiß sie, daß sie sich trotzdem nicht als Standbild oder Büste, ausgeben muß und weiß Gott nicht als Statue. Sie kann mitten im Raum diesen Raum einfach verändern, besetzen, umdeuten. Sie installiert sich, und selbstverständlich hat dann ihre Umgebung einen jeweils neuen Sinn. Das kann die Bildende Kunst, und sie ist so gründlich von den Wänden herabgestiegen, daß sie dorthin schon wieder zurücksteigen kann, falls sie das will.
Silvia Grossmann stellt ihre Skulpturen mitten in den Raum, und in diesen Skulpturen ist nochmals Raum, vorher gab es insgesamt nur einen Raum, jetzt gibt es zwei. Durch den neuen Innenraum innerhalb ihrer Objekte teilt sie das vorher Ungeteilte. Plötzlich ist von einem Innen und einem Außen die Rede.
Dieses Innen und Außen gehört zum Wesen ihrer Arbeiten, auch unabhängig vom inszenierten Ausstellungsraum. Es geht um die Innenseiten von Häusern, Baugerüsten, von menschlichen Körpern oder beispielsweise um die Innenseite von einem Boot, um die Innen- oder Außenseite einer Bühne, einer Szene, einer Bühnenszene, einer Bühnengeschichte. Außerdem kommen Schilder vor und Federn, wahrscheinlich auch Korsette, beziehungsweise Rüstungen, rippige Rüstungen und die Rippen selbst, die durchlässigen Rippen, von denen das Fleisch meist abgeschält wurde. Fleisch und Haut sind abgeräumt, darum sieht man - von außen - durch die Rippen hindurch in einen Innenraum hinein, in den Körper. Körper heißt Innenraum, und der muß geschützt werden, sonst verliert er sich nach außen, ist weg, und aus ist es mit ihm.
Die Rippen kommen in den Grossmann-Arbeiten nicht unbedingt wortwörtlich vor, eher schwingt die ständige Erinnerung an sie mit. Sie wollen ertastet werden, sie sind scheinbar vorhanden, scheinen durch.
Ursprünglich, beziehungsweise zu Beginn aller Körpergeschichten, habe es keine Rippen gegeben, heißt es. (Das kann ich kaum glauben, weil zum Beispiel alle Baumblätter doch so etwas wie Rippen haben.) Die aus Knochen bestehenden Rippen seien erst nach einer Weile erfunden worden. Erst gab es bei einigen Fischen einfach nur Kalkablagerungen im Körper, irgendwo in der Mitte, gut erreichbar von jeder Seite, und sie bedeuteten ein Reservoir für das salzlose Flußwasser, als sie damals den Feinden aus den herrlichen Salzmeeren in die Flüsse zu entkommen suchten. (Das ist eine kurze Nachricht aus unserem früheren Fischzeitalter.) Immerhin war schon der erste Kalkansatz, noch bevor es Rippen gab, ein Schutz, ein beschützendes Reservelager.
Wenn Rippen in der Erinnerung mitspielen, hat die Phantasie einen schlanken Körper vor Augen. Beinahe sind die Rippen sichtbar, bei jeder Bewegung alle Rippen. Eine anziehende Vorstellung, obwohl die Rippen in Wirklichkeit nur mittelbar zu sehen sind, nur andeutungsweise, trotzdem ist es eine anziehende Vorstellung, Rippen sehen zu können. (Vielleicht vor allem für Frauen?) Geht es um die Sprungbereitschaft, um eine erwünschte, erträumte Beweglichkeit, Freiheit?
Um die wirklich nackten, bloßgelegten Rippen, um die verlassenen, ehemals geschützten, geht es hier nicht. Es geht auch sonst nicht um Trauriges oder Lustiges. Außerdem spricht Silvia Grossmann nicht von den Körpern selbst, sondern von deren Kanten und Grenzen zwischen Außen und Innen. Vor allen Dingen spricht sie von der Allgegenwart von allerlei Körpern, etwa vom Körper eines Schildes, eines Hauses, einer Bühnenkulisse.
Wären die Arbeiten Silvia Grossmanns keine räumlichen Gebilde, könnte man sie auch Skizzen nennen. Oder Grundrisse. Vielleicht auch Röntgenbilder. Diese Bezeichnungen wären aber zu wage, weil Grossmanns Arbeiten sehr wohl Skulpturen, also Körper sind; selbst wenn sie als Relief auftauchen, ist die Weite, der Raum hinter ihnen zu spüren. Um es noch einmal hervorzuheben: Sie stehen zwischen Außen und Innen. Sorgfältig, bedacht und fein sind sie gefertigt (darüber wäre Ausführliches zu sagen.) Und außer dem Raum spielen noch eine Reihe von absichtlichen Verwechslungen mit, Verwechslungsmöglichkeiten, die ihren Witz haben.
Da gibt es beispielsweise die Arbeit "Grosser Schild, 175/67 cm". Dieser Schild ist eher ein Boot. Das Boot ist so aufgestellt, daß der Betrachter den Boden des Gefäßes sieht, jene Seite, die sonst im Wasser liegt und unsichtbar ist. Die unsichtbare Bootseite ist andererseits doch wieder ein Schild, ein Beschützer vor dem Wasser.
Eine andere Arbeit heißt "Schwertschild". Das ist ein stechbereites Gebilde, folglich schützt es durch seine Kampfbereitschaft. Erotisch könnte man das 190/48 cm hohe Objekt ebenfalls auslegen, so sieht es mit den absichtlichen Verwechslungen aus. Die schönen Hausgerippe, jene sich faltenden Hausfassaden, die - mit Hilfe von Fotos - doch wieder eine Haut, nämlich die Vorderseite der Häuser miteinspielen, diese gefalteten Hausfassaden könnten vielleicht auch als Fächer gesehen werden. Oder als ein Korsett für ein Haus? Oder ist das gefaltete Haus ein Bühnenbild?
Einmal habe ich im Atelier von Silvia Grossmann übernachtet, also bin ich dort im Atelier aufgewacht, und ich wußte nicht, wo ich war. Der Raum, auf zwei gegenüberliegenden Seiten von Fenstern durchbrochen, in einem Innenhof gelegen, ist ein Innenraum mitten im Wiener Gesamtraum. Neben dem Gästebett, über ihm und in den entlegeneren Winkeln des Raumes flog das Licht durch etliche Rippen-Skulpturen, und vielleicht wachte ich nicht im Atelier auf, sondern in einem Raum für Bühnenrequisiten oder in einem Proberaum, bei den Vorbereitungen für ein neues Stück.
Zsuzsanna Gahse